Nora
KEINE WIDERREDE
Der lange Weg zum Selbst
Ein Menschheitstraum ging am 19. April 2015 in Hongkong in Erfüllung. Teilweise. Damals aktivierten Techniker den Roboter »Sophie« erstmals. Seine Geburtsstunde markierte einen Wendepunkt in der Programmierung von Künstlicher Intelligenz (AI). Geboren – so jubelten die Forscher damals – war die »Loving AI«, also ein Programm, das auf Gefühle von Menschen reagieren und ihnen im besten Fall sogar die Liebe beibringen kann, bis man sie ausschaltet, wenn man ihrer überdrüssig wird. 1879 erlebte Henrik Ibsens Drama »Nora oder Ein Puppenheim « seine Uraufführung. Damals ging es nicht um Robotik, sondern um die Frage, wie es in ganz normalen bürgerlichen Wohnzimmern zugeht. Das war bahnbrechend. Im Mittelpunkt dieses Klassikers steht das Ehepaar Nora und Torvald Helmer. Verdrängte Leidenschaften, verheimlichte Entscheidungen und das Diktat des Patriarchats sind die großen Themen, die jedoch ganz alltäglich um die Ecke kommen. Ibsens Stück schockiert nicht, es schleicht sich eher in unsere Seele und in unser Hirn – das sind die beiden Lieblings-Aufenthaltsorte von guter Dramatik. Am Ende ihres Erkenntnisprozesses sagt Nora, dass sie ihr ganzes Leben wie eine Puppe behandelt wurde. Und da fällt sie uns wieder ein, diese Sophie, die ein Roboter ist. Wir werden Maschinen keine Empathie lehren können, sagen kritische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Aber sie werden uns vielleicht ein Stück weit Empathie beibringen können. Unser Puppenheim ist also hochaktuell und nicht weniger spannend als 1879.
Das Stück „Nora oder Ein Puppenhaus“ von Henrik Ibsen in der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel ist als E-Book erschienen.