Wie später ihre Kinder
Der 2018 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnete Roman ist »eine große Gesellschaftschronik in der Tradition von Émile Zola« (Virginie Despentes), voller Leben, erzählerischer Kraft und Menschenliebe. Das Schauspiel des Saarländischen Staatstheaters hat die Rechte am Stück für die deutschsprachige Dramatisierung erhalten und freut sich darüber, einen solch besonderen Stoff der Großregion erstaufzuführen.
»Die sanfte Beklemmung, dazuzugehören.« Dies ist die Geschichte einer lothringischen Stadt und ihrer Bewohner, mit ihren mittelmäßigen bis randständigen Existenzen, die unweigerlich miteinander verwoben sind und bleiben, in einer Region, die geprägt ist von Montanindustrie und Tourismus, ähnlich der hiesigen. Dabei verfolgt Nicolas Mathieu über vier Sommer der 90er-Jahre die Entwicklungen der Jungen wie der Alten, der Wohlhabenden wie der Diskriminierten, und zeigt in literarischen Nahaufnahmen ihre Sehnsüchte, ihre Erfolge und erlebten Tiefschläge. Da gibt es Anthony – zu Beginn der Erzählung 14 Jahre alt, lebenshungrig, auf der Suche nach Perspektive, nach Begegnung und ersten sexuellen Kontakten –, dessen Motorrad geklaut und abgefackelt wird, was der Auslöser einer Familienkrise wird, die weder die Eltern, noch ihn unbeschädigt zurücklässt. Und Hacine, ebenso jung, hart, provokant, das Inbild des dealenden Plattenbau-Gangsters, der Anthonys Schicksal mitbestimmt und mit der Gastarbeitergeschichte seiner Eltern abrechnet. Über diese beiden Jungen fächert Mathieu ein ganzes Sozialspektrum auf: Mit seinem präzisen Blick für sozialen Status, gepaart mit präziser literarischer Beschreibung, zugewandt, detailliebend und doch erbarmungslos ehrlich, schafft er es, in großer Zugewandtheit, die französische Gesellschaft außerhalb des großen Ballungszentrums Paris und der reichen Vororte der Republik zu erfassen.
Die Dramatisierung verdichtet die Schicksale mittels großflächiger Videoarbeiten (Jean-Christophe Lanquetin) und Sounddesign (Anouschka Trocker) zu einer stimmungsvollen Kollektiverzählung, die ihre literarischen Ursprünge nicht verheimlicht: Regisseurin Leyla-Claire Rabih ist es wichtig, mit dem Roman als Genre auch umzugehen. Und so wechselt das Schauspielensemble zwischen Erzählerhaltung und Figur, zwischen chorisch erzählten und kollektiv beobachteten Passagen sowie dialogischen Szenen. Bühnenelemente und in Lothringen gedrehte Filmausschnitte in Kombination mit Popmusik der 90er Jahre führen das Publikum atmosphärisch dicht mitten ins Geschehen.
Außergewöhnlich ist das Serviceangebot, das das Saarländische Staatstheater dem französischsprachigen Publikum bieten kann: Sowohl die Regiearbeit ist zweisprachig als auch die begleitenden Übertitel, die wir dank einer Förderung des Institut français Paris im Rahmen des Programms Théâtre Export Deutschland einrichten können.
Audio-Einführung: Wie später ihre Kinder (französische Version)
Inszenierung
Leyla-Claire Rabih
Bühnenbild + Video
Jean-Christophe Lanquetin
Kostüme
Faveola Kett
Musik
Anouschka Trocker
Licht
Björn Schöck
Dramaturgie
Bettina Schuster-Gäb
Erzählkollektiv
Christiane MotterVerena Maria Bauer
Laura Trapp
Fabian Gröver
Silvio Kretschmer
Lucas Janson
Philippe Journo
»Das Stück besticht jedoch durch eine fantastische Leistung des Ensembles, das nicht nur unglaubliche Mengen an Text bewältigen muss, sondern es auch versteht, die melancholischen Untertöne dieser Geschichte über Hoffnungen und verblassende Träume einzufangen.« Mehr hören ...
Roswitha Böhm, SR 3 Region am Mittag, 26.03.2023
»Trotz des schweren Stoffes punktet »Wie später ihre Kinder« mit einer mutigen und mitreißenden Inszenierung sowie einem starken, glaubwürdig spielendem Ensemble.« Mehr hören ...
Jana Bohlmann, SR 2, 27. März 2023
»Alle diese Geschichten setzt Regisseurin Leyla-Claire Rabih zu einem Panorama zusammen, zur Chronik des Lebens in einer Kleinstadt, die die Erzähler-Darsteller mit einer unglaublichen Expressivität und vibrierenden Spannung wie in einem kollektiven Pulsschlag lebendig werden lassen.«
Konstanze Führlbeck, Die Rheinpfalz online, 26. März 2023